Krabbeltiere im Essen: Sorgen und Missverständnisse

Krabbeltiere im Essen: Sorgen und Missverständnisse

Unerwartete Aufregung
Bereits seit 2021 sind Larven des Mehlkäfers und Wanderheuschrecken in verschiedenen Verarbeitungsformen erlaubt. Im Februar 2022 kam schließlich die Hausgrille in gefrorener/getrockneter/pulverförmiger Form dazu und wurde nun im Jänner 2023 als teilweise entfettetes Pulver gemeinsam mit dem Getreideschimmelkäfer/Buffalowurm autorisiert. Warum also gerade jetzt dieser Aufschrei bei vielen europäischen Konsument:innen? Das lässt sich nicht ganz nachvollziehen und doch gibt es ein paar Vermutungen: Die rasche Verbreitung von Fehlinformationen auf Social Media, das Aufbauschen des Themas in einigen Medien als gezielte "Aufmerksamkeits-Hascherei" sowie die Tatsache, dass uns die Covid-Jahre auch nicht unbedingt offener gegenüber exotisch wirkenden Produkten gemacht haben und das Vertrauen in die Politik gestärkt worden wäre.

Den etwas überheblich anmutenden Twitter-Post der EU-Kommission "Bitte tief durchatmen" finden viele amüsant, er hilft aber nicht unbedingt bei der sehr emotional geführten Diskussion und gegen die Verunsicherung.

Wir haben in Europa nur wenig kulturelle Anknüpfungspunkte zu essbaren Insekten. Es scheint Aufzeichnungen über die berühmte Maikäfersuppe oder kandierte Maikäfer zum Knabbern in Deutschland und in Frankreich bis Mitte des 20. Jahrhunderts zu geben. Man machte die Not zur Tugend und bekämpfte damit sinnvoll einen Schädling der Landwirtschaft. Und sonst? Nicht viel. Der sardische Käse "Casu Marzu" ist auch ein schönes Beispiel, seine Produktion und Vertrieb wurden 2005 nach EU-Lebensmittelrecht verboten, aus Sorge über Hygiene und möglicher gesundheitlicher Probleme durch die Beißerchen der Maden. Der Käse erhält sein einzigartiges Aroma nämlich durch die Larven der Käsefliege, die lebend mit dem Käse verzehrt werden. Im privaten Bereich wird er weiterhin produziert und verzehrt.

Der Würchwitzer Milbenkäse wird mit einer kurzen Unterbrechung nach dem 2. Weltkrieg seit etwa 1000 Jahren produziert und ist ein Lebensmittel, bei dessen Herstellung Milben – in diesem Fall also keine Insekten, sondern Spinnentiere – eingesetzt und auch lebend mit verzehrt werden.

So weit, so gut. Es ist also nicht viel, das wir Europäer:innen in Sachen essbare Insekten vorweisen könnten. Keine Tradition, keine kulturelle Verknüpfung. Eher ein Ekel, weil wir Insekten als Schädlinge kennen, als Fliegenmaden-Gewurrl in der Biomülltonne und nicht als wertvolles Lebensmittel. Dieser Ekel ist anerzogen oder durch Erfahrungen geprägt, Kinder stehen Insektenessen offener gegenüber.

"Insekten gehören nicht auf den Teller von Menschen!"
Dieses in letzter Zeit häufig gehörte Argument trifft allerdings nicht zu. Weltweit zählen Insekten für etwa 2 Milliarden Menschen, also gut 1/4 der Weltbevölkerung ganz selbstverständlich zur Nahrung. Besonders in Asien, Afrika und Lateinamerika sind sie eine wichtige Nährstoffquelle. Über 2000 verschiedene Insektenarten sind essbar, dazu zählen Käferlarven, Hummeln, Wespen, Libellen, Schmetterlinge oder auch Ameisen und Wanzen. Auch Spinnentiere wie Skorpione landen auf dem Teller.

Dschungelcamp für alle?
Es gibt keinen Grund, warum uns Insektenmehl in Lebensmitteln "untergejubelt" werden sollten, dafür sind sie viel zu teuer im Vergleich zu pflanzlichen Produkten wie Mehl. Sie sind klar gekennzeichnet, auch der Allergenhinweis wird gegeben. Wichtig dabei: WEICHTIERE haben nichts mit Insekten zu tun, dazu zählen Schnecken, Muscheln und Kopffüßer, also Tintenfische & Co.

Müssen wir uns an den Geschmack gewöhnen?
Niemand MUSS Insekten essen und niemand MUSS seinen Ekel überwinden. Wir können. Wir können Insekten essen, weil wir neugierig sind, weil es uns einfach schmeckt oder weil wir eine etwas weniger energieaufwändige tierische Proteinquelle nutzen wollen als Rindfleisch. Insekten sind nicht die perfekte ökologische Lösung, als die sie angepriesen werden. Sie sind aber sparsamer im Verbrauch von Land, Futter und Wasser, also den Ressourcen, die im Laufe des Klimawandels auch in Europa immer knapper werden. Auch die Notwendigkeit zusätzlicher alternativer Proteinquellen kann sich dadurch schneller ergeben, als wir jetzt vielleicht annehmen. Essbare Insekten können besonders umweltschonend produziert werden, wenn sie mit Lebensmittelüberschüssen und nicht mit für den Menschen direkt verwertbaren Lebensmitteln gefüttert werden. Aus Umwelt- und Tierwohlsicht können wir aber auch beim pflanzlichen Protein aus Hülsenfrüchten bleiben.

Ob essbare Insekten in Europa eine "Gag-Attraktion" bleiben oder ob sich die Insekten auf lange Sicht durchsetzen und vor allem bei jungen Generationen bereits als ganz normal empfunden werden, wird sich zeigen. Aber eines steht fest: Wir Europaer:innen werden nur dann Insekten essen, wenn wir auch einen (wenn auch sehr persönlichen) Sinn dahinter erkennen.